Virtuelle Interrail Reise, zweiter Zwischenstopp: Wien. Die Stadt der Wehmut, der prunkvollen Gebäude und zugleich der zahlreichen Grünflächen und Parks. Nicht nur wegen ihrer Lage im Herzen Europas führt also kein Interrail-Weg an der österreichischen Stadt vorbei. Hier treffe ich drei Menschen, die im Bereich des Wohnungsbaus und der Stadtplanung tätig sind und trotzdem unterschiedliche Blickwinkel auf die Frage haben, warum wohnen in Wien so besonders ist.
“Mei Wien is ned deppert“ hat einmal der ehemalige Bürgermeister der Stadt Wien gesagt. Ganz Unrecht hatte er wahrscheinlich nicht, ist Wien doch bereits zum 10. Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt worden. Irgendwie aber auch logisch, wenn man bedenkt, dass Wien gleichzeitig auch als internationales Vorzeigemodell im Bereich des sozialen Wohnungsbaus gilt. Denn wie lebenswert ist eine Stadt wirklich, wenn ein Drittel des Einkommens für die Zahlung der Miete draufgeht? Oder wenn der Preis für eine bezahlbare Wohnung der ist, dass man stundenlang zur Arbeit pendeln muss?
Während fast überall in Europa, vor allem in großen Städten, die Preise fürs Wohnen durch die Decke schießen, lag 2018 der durchschnittliche Kaltmietpreis in Wien bei 5,90 EUR pro Quadratmeter (Quelle: Statistik Austria). Zum Vergleich: die durchschnittliche Nettokaltmiete in den Top 7 der deutschen Metropolen (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt am Main, Stuttgart, Düsseldorf) lag im gleichen Jahr bei 8,90 EUR (Quelle: Statistisches Bundesamt). Was macht Wien anders?
„Das ist in der Stadt-DNA drin“
Einerseits hat dies mit einer 100-jährigen Tradition zu tun, erklärt mir Amila Širbegović, Architektin und Stadtforscherin bei der IBA_Wien, die diesmal zum Thema „Neues soziales Wohnen“ stattfindet. Nämlich, dass Wien seit 1918 – mit Unterbrechung während des 2. Weltkriegs – eine „rote Stadt“ ist, die von Beginn an auf eine soziale Durchmischung durch den Bau von Gemeindebauten gesetzt hat. „Die Stadt hat den Bestand von Gemeindebauten mit bezahlbaren Mietwohnungen über all die Jahre ständig erweitert“, so Širbegović. Im gesamten Stadtgebiet gehören mehr als 220.000 Wohnungen der Stadt Wien – das ist rund ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes. Für diese qualitativ hochwertigen Wohnungen kann die Stadt erschwingliche Preise und unbefristete Mietverträge garantieren.
Hinter dieser Entwicklung stehen andererseits auch bewusste politische Entscheidungen. Für starken Mieter*innenschutz und eine umfangreiche Mietberatung, aber auch dafür, gemeinnützige Bauträger mit ins Boot zu nehmen, welche den Bestand an leistbaren Mietwohnungen merklich vergrößern. „Man merkt, die Stadt steht auf der Seite des Mieters“ so Karin Zauner-Lohmeyer, Gründerin der Europäischen Bürgerinitiative „Housing for all“.
Ob denn das Geld für die Miete nicht besser gleich in eine Eigentumswohnung investiert werden sollte? Nicht unbedingt, findet Amila Širbegović. Bei Aufnahme eines Kredits zum Kauf einer Eigentumswohnung wird auch ein nicht unbedeutender Teil des Einkommens an die Bank gezahlt. In Wien hingegen sind die Baugenossenschaften bei geförderten Mietwohnungen neben bezahlbaren Wohnpreisen auch dazu verpflichtet, den Erhalt einer hohen Lebensqualität zu ermöglichen.
„Das ist in der Stadt-DNA drin“, so Širbegović, „wir sehen keinen Nachteil darin, in einer Mietwohnung, statt in einer Eigentumswohnung zu leben“. Der Anteil von Mietwohnungen liegt in Wien bei rund 77,5%. Zum Vergleich: Auf nationaler Ebene sinkt der Anteil von Mietwohnungen in Österreich auf etwas mehr als die Hälfte, in Luxemburg hingegen wohnen rund 75% der Menschen in einer Eigentumswohnung.
Eine Stadträtin für Wohnbau, Stadterneuerung … und Frauen
Aber genug der Zahlen. Denn nicht nur diese Zahlen drücken aus, inwiefern das Wiener Wohnungsbausystem neue Akzente setzt. Spannend sind auch die Bauträgerwettbewerbe, die von der Stadt ausgeschrieben werden und an bestimmte Anforderungen gebunden sind. Das Projekt mit der innovativsten Idee, welches an die Bedürfnisse der Wiener*innen und die gesellschaftliche Entwicklung angepasst ist, wird von einer Jury ausgewählt und bekommt damit das Recht, das Grundstück zu den Bedingungen des geförderten Wohnbaus zu bebauen. Die Wohnbauprojekte der Zukunft enthalten je nach Bauträgerwettbewerb neue Formen der generationenübergreifenden Wohngemeinschaft, nachhaltige Energiekonzepte oder auch neue Wohnmodelle für die wachsende Gruppe der Alleinerziehenden.
Denn die verantwortliche Stadträtin ist gleichzeitig Wohnbau- und Frauenstadträtin und setzt sich dafür ein, dass der Wohnungsbau dem doch oft komplexeren Alltag der Frauen gerecht wird. „92% der Alleinerziehenden in Österreich sind Frauen“, erklärt Amila Širbegović, „und die Situation der Alleinerziehenden ist für Frauen oft prekärer“.
Im Mittelpunkt dieser Wohnmodelle steht deshalb z.B. die Anpassung der Wohnungsgröße und der Aufteilung der Zimmer um überflüssige Mietkosten zu vermeiden. Auch kürzere Wege und die Nähe zu Kinderbetreuungsstrukturen sind wichtig, um Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf so gut wie möglich zu unterstützen. Mit jedem neuen Projekt kommt die Stadt dadurch ihrem Ziel näher, neue nachhaltige Quartiere zu schaffen und gleichzeitig Integration und soziale Inklusion zu fördern.
It’s your turn, Europa
Das Beispiel Wien zeigt, wie wichtig die soziale Funktion der Städte in einer Gesellschaft ist. Oder eher – sein sollte. Denn, dass es in der europaweiten Wohnsituation momentan noch einen Systemfehler gibt, ist laut Karin Zauner-Lohmeyer unbestreitbar. 2019 startete sie die europäische Bürgerinitiative „Housing for all“, welche es sich zum Ziel gesetzt hat, bezahlbares Wohnen für alle Menschen in Europa zu ermöglichen.
„Der Markt alleine wird niemals genug leistbaren Wohnraum hervorbringen. Städte wachsen, der Bedarf nach Wohnungen steigt immer weiter und mit ihm der Wohnungspreis. Gerade in einer solchen Niedrigzinsphase, wie die, in der wir uns aktuell befinden, sucht das Geld nach Veranlagung und findet im Wohnungsmarkt die Geldquelle schlechthin. Wir müssen uns dann die Frage stellen ob Wohnen ein Menschenrecht ist oder bloß eine Handelsware, um noch mehr Geld zu verdienen“, meint Zauner-Lohmeyer.
So muss vor allem auch die Rolle der EU in dieser Frage neu definiert werden. Die Bürgerinitiative fordert u.a. neue Rahmenbedingungen, damit die Maastricht-Kriterien zur Neuverschuldung der Staaten die öffentlichen Investitionen in den Wohnungsbau nicht einschränken. Auch die Regelungen für die Besteuerung von Kurzzeitvermietungen, wie z.B. die Plattform Airbnb, müssten überarbeitet werden.
„Wir müssen uns überlegen, wie wir die Lebensqualität in den Städten hochhalten wollen. Das geht nicht, wenn ganze Berufsgruppen, die die Städte eigentlich am Leben halten, sich die Mieten dort nicht mehr leisten können und stundenlang zur Arbeit pendeln müssen“, so Zauner-Lohmeyer. „Wir brauchen eine europaweite Diskussion, um dem Wohnungsbau wieder die nötige Wertschätzung entgegenzubringen“. Als Folge des Brexits musste die Bürgerinitiative zwar eingestellt werden. Ihr Ziel einer europaweiten Diskussion und der Vernetzung der Menschen konnte sie trotzdem erreichen.
Wie wollen wir wohnen?
Auch aus dem Austausch mit Bojan-Ilija Schnabl von der Wiener Wohnbauforschung geht hervor, wie wichtig es ist, die Wohnbaupolitik an die gesellschaftliche Entwicklung anzupassen. Das bedeutet vor allem auch, sie auf die einhergehenden wirtschaftlichen Höhen und Tiefen vorzubereiten. „Dank des hohen Anteils von leistbarem Wohnraum waren die Auswirkungen der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise geringer als anderswo. Auch jetzt in Zeiten der Corona-Krise ist der soziale Wohnbau Garant dafür, dass die Krise besser überstanden werden kann“, so Schnabl.
Wie wollen wir wohnen? Mit wem? Und wo? Diese Fragen werden immer stärker vom Preis bestimmt – und der steigt bekanntlich unaufhörlich. In Luxemburg nicht zuletzt um mehr als 11% innerhalb nur eines Jahres. Natürlich wird es immer mehr Menschen in die Stadt ziehen und Städte werden weiterwachsen. Das Beispiel Wien zeigt allerdings, dass dieses Wachstum so begleitet werden kann, dass die Städte auch weiterhin lebenswert bleiben und an die Bedürfnisse der Bewohner*innen angepasst werden können. Dass es nicht den Entscheidungen privater Investoren überlassen werden muss, wie wir wohnen. Und wie wichtig es ist, dass Wohnen ein Grundrecht bleibt.
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